Die andere Welt
In die wir erwachten
ein kriegstagebuch

Demo am 6. März 2022
Demo am 6. März 2022
Demo am 6. März 2022

Die andere Welt
In die wir erwachten

Vieles hat sich geändert seit dem 24. Februar 2022, dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine. Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht und wir suchen nach alten Sicherheiten und neuen Gewissheiten.
Willkommen auf der Seite meines öffentlich geführten „Kriegstagebuchs“, das Haupt- und Nebensächliches aus einer subjektiven Berliner Perspektive notiert.

ein kriegstagebuch
Tag 33
Es gibt gute Nachrichten. Die ukrainische Cousine aus der Nachbarschaft mit ihren beiden Kindern ist – juchhu – zumindest registriert und hat jetzt die Möglichkeit, sich um Wohnung, Schule, Kita-Platz in Berlin zu kümmern.
Dem vorausgegangen waren viele zum Teil sehr widersprüchliche Infos. Auf ukrainischen Plattformen wurde von dieser Registrierung teilweise abgeraten, weil man dann nicht wisse, wo man hingeschickt wird. Und auch die Leute von der Notunterkunft rieten ab.
Ich hatte mehrere Telefonate mit Hotlines, mit Behörden, mit der Registrierung, die alle ausgesprochen freundlich und kompetent erschienen und die klar sagten: Wenn jemand hier schon Verwandte und Freunde hat, dann kann die Registrierung und der Aufenthaltstitel auch für Berlin erteilt werden. Donnerstag gingen sie dann nach Tegel und alles klappte gut – nur die Stelle, die die biometrischen Fotos machte, war nicht mehr besetzt, sodass sie am Freitag früh nochmal hinmussten. Aber jetzt ist das erste Kapitel erstmal geschrieben. Und wenn ich heute von Fällen höre, wo doch Ukraine-Flüchtlinge trotz Freunden und Hilfen in Berlin in andere Bundesländer geschickt werden sollen, bin ich ganz froh, dass es in diesem Fall geklappt hat – mit dem ersten Schritt. Mal sehen, wie es weiter geht, wenn es weitergeht.

Tag 35

neutral
nach all den bomben
nach all dem schmerz
nach all dem leiden
nach all dem tod
neutral?
nach dem krieg
nach dem mut
nach der flucht
nach der hoffnung
neutral?
nach all dem
neutral?
nachdenken!


Der Krieg ist schon so unendlich lang
und er dauert an.

Ich lese gerade, weil mich die Gräuel dieses Krieges wie wahrscheinlich viele umtreibt, in einem sehr alten Werk mit dem programmatischen Titel
ZUM EWIGEN FRIEDEN – EIN PHILOSOPHISCHER ENTWURF.
Es ist Ende des 18. Jahrhunderts von Immanuel Kant geschrieben worden und diente als Grundüberlegung für die Charta der Vereinten Nationen. Kein Trostbuch, aber wichtig.
Und da er den Satz, dass die Hoffnung wohl zuletzt stirbt, auch schon kannte, formulierte er folgenden Gedanken, den ich an das vorläufige Ende meines Kriegstagebuches stellen möchte.

„Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar und lautet so:
»Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber in Geheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen
Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten«. Ein solches Problem muss auflöslich sein. Denn es ist nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanismus der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nötigen, und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen.“


Tag 23

In meinem Umfeld gibt es immer mehr Menschen, die im Kleinen wie im Großen anpacken, damit die Zufluchtsuchenden bei uns untergebracht, versorgt und wirklich betreut werden. Eine benachbarte Kirchengemeinde hat ihre Jugendetage für drei Familien umgebaut, eine ältere Freundin, die selber Flucht und Vertreibung durchlitten hat, sie hat ein paar schicke und gut erhaltene Kleider aussortiert. Ich habe mich mal um ein Thema gekümmert, von dem ich am Anfang dachte, dass es eine einfache Sache wäre: die Registrierung einer kleinen Familie, deren Cousine bei uns in der Nachbarschaft arbeitet. Angeblich ist das online möglich. Ich rufe also die zentrale Nummer an und habe tatsächlich nach ein paar Minuten eine freundliche Dame am Apparat, die mir allerdings wenig Hoffnungen auf die Registrierung macht. Man kann ja auch ohne Registrierung bleiben, meint sie. Mhm. Und das eine Mädchen soll in die Schule. Und der kleine Junge vielleicht in die Kita. Und die Frau hat schon einen Arbeitsplatz gefunden, kann aber erst arbeiten, wenn sie das auch offiziell darf. Ja dann. Diese Registrierung ist dafür die Voraussetzung. Ja, sagt sie. Versuchen Sie es ganz früh morgens auf der Online-Plattform. Da werden die Kontingente von nicht gebrauchten Terminen freigeschaltet.
Am nächsten Morgen stehe ich früh auf und schaue auf das Diagramm der Online-Anmeldung. Nichts. Ich koche einen Kaffee. Betätige die Refresh-Taste. Nichts. Ich lese zwischendurch die erschreckenden Nachrichten des Tages. Refresh-Taste. Nichts. Gegen Acht habe ich die Arbeit am Rechner beendet, mache Frühstück und bin gefühlt alle 5 Minuten wieder am Rechner. Aber nichts tut sich. Bis zum 12. April sind alle Termine ausgebucht. Danach sind keine weiteren Termine freigeschaltet. Aber ohne Registrierung …
Beim Schulamt in Reinickendorf gibt es sogar eine Ansprechpartnerin für Willkommensklassen. Ich frage. Auch hier ist eine „humanitäre Aufenthaltserlaubnis zum vorübergehenden Schutz nach § 24 Aufenthaltsgesetz“ notwendig. Aber ich kann schon mal den Namen des Kindes hinterlegen. Und warte weiter.

Tag 24

Es muss doch möglich sein, denke ich und telefoniere mit Leuten, die gerade Ähnliches erleben. Die Registrierung scheint das Nadelöhr. Aber es soll alles bald besser werden. Beim Surfen entdecke ich am Nachmittag tatsächlich eine wohl gerade neu geschaltete Seite der Senatsverwaltung. Dort kann man online einen Antrag auf diese „humanitäre Aufenthaltsgenehmigung nach § 24“ stellen. Bedingung: Nach der Registrierung ist den Ankommenden tatsächlich Berlin zugewiesen worden. (Ich runzle die Stirn) Oder: Sie haben bereits eine dauerhafte Wohnung in Berlin oder sind bei Verwandten gemeldet.
Beides ist schwierig. Auf der Online-Plattform zur Registrierung tut sich nichts. Und Notunterkünfte gelten nicht als „dauerhafte Wohnung“. Ich komme mir vor wie der Schuster Voigt im Hauptmann von Köpenick. Der bekommt keinen Pass, weil er keine Wohnung hat. Und keine Wohnung, weil er keine Arbeit hat und keine Arbeit, weil er keinen Pass hat.
Wenn ick mir recht erinnern tue.

Tag 25 (Sonntag)

Auf der Online-Plattform zur Registrierung tut sich immer noch nichts, obwohl es Termine auch am Samstag und Sonntag gibt. Wenn es denn welche zu vergeben gibt. Deshalb ein Versuch:
Hat jemand eine Wohnung oder ein WG-Zimmer für eine ukrainische Mutter aus Czernowitz und ihre beiden Kinder (3 und 12 Jahre alt)? Damit sie sich dort endlich auch anmelden können.
Dann bitte hier antworten. Ich kümmere mich dann um alles Weitere.

Tag 26

sirenenalarm

der gedanke an krieg
hinterlistig
völlig verrückt
unvorstellbar
aber berlin
stellt 400 sirenen auf

der gedanke an krieg
neben dem bett
gewehr bei fuß
ohne gewähr
der tod heult wie ein wolf
sirenenlaut
unheil
es ist angerichtet
wer auch immer

Der gedanke an krieg
nicht um den ersten stein
und wer ihn wirft
das ungeheuer
das durch die straßen zieht
tränen sät
pechschwarz
blutglut
sirenenalarmbegleitet

und keine bettdecke reicht
um sich darunter
in sicherheit
Der gedanke an krieg
ist stärker
und die sirenen künden
gedankenverloren
neue nächte ohne sinn

 

Tag 28


Vor vier Woche hat Putins Überfall auf die Ukraine begonnen. Vier Wochen. Wir denken seitdem in anderen Kategorien. Finden Waffenlieferungen an die Ukraine richtig. Sanktionen gegen Oligarchen sowieso. Wenn wir es uns leisten können, reagieren wir mit Achselzucken auf steigende Energiepreise und finden leer gekaufte Weizenregale fast genauso doof wie leer gekaufte Klopapier-Regale zu Corona-Zeiten (äh. ach ja die Pandemie gibts ja auch noch). Vier Wochen haben die Welt verändert. Es sind andere Prioritäten zu setzen. Ja wir müssen über eine neue Friedensethik reden. Ja wir müssen über unser Verhältnis zu Russland … ja alles.
Manchmal macht es mich ganz müde, was wir alles müssen. Und meine Leichtigkeit, mit der ich über manche Verdrehung der Geschichte, in der Vergangenheit geschmunzelt habe, ist dahin.
Früher hätte ich etwa über eine Nachricht, dass jetzt die Nachfrage nach Bunkern wieder steigt, schlicht herzlich gelacht. Heute wird mir ganz anders. Nicht, weil ich schlicht keine 100 000 Euro habe, die ich für so ein Teil in der Basisvariante hinlegen müsste, wenn ich ein Haus und eine entsprechende Baugenehmigung zum Bunkerbauen hätte, sondern weil mir allein der Gedanke so aberwitzig vorkommt und gleichzeitig möglich erscheint, dass wir so etwas vielleicht doch … nein, ich will nicht.
Ich habe vor ein paar Jahren mal eine Bunkerführung in den – glaube ich – einzigen halbwegs intakten Atombunker von good old West-Berlin mitgemacht. Schon nach 30 Minuten hatte ich das Gefühl, ich will hier raus. Die Vorstellung in einem solchen Schutzraum mit anderen Menschen Tage, Wochen oder Jahre auszuharren – mit Atemschutz- und anderen Masken … nein, ich will nicht.
Müssen wir in anderen Dimensionen denken? Ich denke: Wir müssen. Und das fängt bei A wie Autarkie an und endet noch lange nicht bei Z wie Zivilschutz.
Autarkie. Alles was man braucht, selber herstellen. So dass man im Zweifelsfall nicht abhängig ist von anderen, die einen mit der Lieferung (oder Nicht-Lieferung oder Verteuerung) unter Druck setzen können. Interessanter Gedanke. Schon mal gescheitert. In Nazideutschland zum Beispiel. Aber auch später in anderen Ländern, die sich auf keinen Fall auf die Regeln des Weltmarktes einlassen wollten. Denn wenn alles oder vieles von dem, was bisher in China oder Thailand hergestellt oder als Rohstoff aus Russland oder Brasilien zu uns kam, verstärkt bei „uns“ hergestellt würde, wäre schon mal die Basis unserer bisherigen weltweiten Arbeitsteilung in Frage gestellt. Wenn alles, was für unseren Wohlstand (und seine Sicherung) wichtig ist, in Deutschland – allenfalls noch in langjährig befreundeten Nachbarländern – hergestellt werden sollte, müssten wir gewaltig umdenken. Computer, so wie wir sie kennen und benötigen, würden – wenn sie denn mit deutschen Chips und deutscher Hardware laufen sollen – in ein paar Jahren unerschwinglich oder hochsubventioniert sein. Alles auf Strom umstellen und den dann nur noch aus erneuerbaren Energien beziehen … möglich, aber nicht sofort. Nahrungsmittel nur noch aus der Region und möglichst auch noch bio. Wird teuer, wird weitestgehend vegetarisch, ist also möglich, aber nicht sofort und nicht mit den Strukturen, die wir jetzt noch haben und hegen. Der Gedanke, alles selber zu produzieren, erinnert mich irgendwie an die Heimwerkereuphorie der 70er Jahre, die in den letzten Jahren wieder fröhliche Urständ feierte. Nur jetzt sozusagen „in echt“ und ohne dass man, wenns nicht gut geworden ist, doch noch irgendwo was „Fertiges“ einkaufen kann.
A wie autarker werden, wäre ein Langzeitprojekt – nicht ohne Reiz, aber bestimmt nicht ohne Kollateralfolgen: Wurst wäre dann eher nicht mehr angesagt. Und mit dem eigenen Auto durch die Stadt heizen … oh oh oh.
Vier Wochen Krieg … und schon gerät das Fragezeichen zum gebräuchlichsten Satzzeichen. Oder?

Tag 21
 
Bisher habe ich den ukrainischen Botschafter Melnyk eigentlich eher bewundert, weil er klar formulierte, was er – und als Botschafter sollte er das mitbedenken – sein Präsident im Binnenverhältnis Deutschland und Ukraine denkt. Manchmal schien er über das Ziel hinauszuschießen, aber verständlich ist es allemal, weil ein Land in diesem Ausnahmezustand laut um Hilfe rufen darf.
Jetzt allerdings scheint mir aus den selbstbewussten Tönen auch eine gewisse Dreistigkeit zu sprechen, die ich unangemessen und sogar abstoßend finde. Wie kommt ein Diplomat dazu, dem ja nicht feindlich gesinnten Deutschland vorschreiben zu wollen, dass es doch bitte noch mehr für sein Land tun soll, mehr Waffen schicken soll, Panzer und Flugzeuge eingeschlossen? Und dass der Kanzler nach Selenskyis Rede am morgigen Donnerstag sich doch bitte sehr in einer Regierungserklärung darüber auslassen soll, wie er sich die Hilfe für die Ukraine vorstellt. Und dass Sozialdemokraten schon mal – laut Informationen des SPIEGEL – als „Kumpels von Putin“ diffamiert werden, ist auch nicht gerade die feine diplomatische Art. Kann man so empfinden, kann man so denken. Aber wenn man es als Diplomat sagt, hat man leider den Boden der Diplomatie verlassen und schwingt sein Tanzbein auf dem dünnen Eis der Demagogie.
Ja, es haben gerade reihenweise Politiker erklärt, sie hätten Autokraten wie Putin (und andere) zu lange unterschätzt und darauf darf man sie auch ansprechen und muss sie sogar für die Zukunft zu einer Neuausrichtung ihrer Politik zwingen.
Aber zur Kunst der Diplomatie gehört – jedenfalls meinem Verständnis nach – die Interessen seines Landes so zu vertreten, dass andere nicht bloßgestellt oder in die Enge getrieben werden. Doch genau das macht Melnyk m.E. zu oft.
 
Tag 22

Das Schöne am Tagebuchschreiben ist, dass man sich ändernde Einstellungen später genau nachvollziehen kann. Heute nach der ergreifenden Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskyi vor dem Deutschen Bundestag hätte ich mir doch sehr gewünscht, dass der deutsche Kanzler wenigstens antwortet, auch wenn es nicht vorgesehen war. Aber man ging – zwar unter Protest einiger Oppositionspolitiker:innen einfach zur Tagesordnung über. Tschuldigung. Da hatte Melnyk doch recht. Es entsteht – wie Präsident Selenskyi es formulierte – wieder eine Mauer und wir tun angesichts des Krieges viel, aber wohl nicht alles Mögliche, um ihn zu beenden. Ich ärgere mich, dass der direkt angesprochene Kanzler nicht wenigstens in einer Geste die Aufforderung, die entstehende Mauer einzureißen, aufgenommen hat. Es gibt ihn – den Kairos. Den rechten Moment. Und hier hat ihn Scholz nicht beim Schopf gepackt. Schade. Nein. eigentlich unmöglich.
 
Tag 20 (Die Iden des März)
 
Was ist Mut?
Das, was die zweifache Mutter und Mitarbeiterin des russischen Staatsfernsehens Marina Owsjannikowa gestern für einige Sekunden tat. In der Hauptnachrichtensendung des staatlichen russischen Fernsehens mit einem Plakat gegen den Krieg zu demonstrieren. Und ihre Mitbürger:innen aufzufordern, massenhaft auf die Straßen zu gehen. Mutig. Denn auf solche Taten stehen hohe Gefängnisstrafen im Reiche Putins.
Und dass der Mann sozusagen am ehesten „von innen“ an weiterem Morden gehindert werden könnte, davon sind ja viele überzeugt. Von Elon Musk, der gerne sich „von Mann zu Mann“ mit dem Schwarzgurt Putin messen will – Preisgeld Ukraine – und dabei in tiefstes mittelalterliches Denken zurückfällt bis hin zu jenem US-Republikaner, der laut nach einem Brutus ruft, der doch den Cäsarenwahn eines Wladimir Putin beenden möge.
Ja. Schlag nach bei Shakespeare. Sein Drama „Julius Cäsar“ zeigt nicht nur, wie „wunderbar“ die öffentliche Meinung manipuliert werden kann, sondern auch, dass hinter oder neben einem Tyrannen mordenden Brutus gleich auch ein Antonius steht, der die Amtsgeschäfte Cäsars mühelos weiterführen lässt. Schon bemerkenswert, wie William Shakespeare klar und hellsichtig öffentliche Meinungsmacher und Wendehalstum beschrieb. Fake-News gab es offenbar immer.
Es wäre natürlich zu wünschen, dass das System Putin in sich zusammenfällt, ob dazu der Cäsar im Kreml „von Mann zu Mann“ herausgefordert, klein beigibt oder ihn ein Brutus erdolcht – ich halte beides nicht für zielführend. Allerdings könnten solche mutigen Aktionen wie die von Marina Owsjannikowa den Druck auf die öffentliche Meinung erhöhen. Und damit das System „von innen“ ad absurdum führen.
Ob die Mutigen in der Ukraine allerdings so lange dem Druck werden standhalten können?
 
Tag 19
 
Kann man das Wort „solidarisch“ steigern? Rein grammatikalisch sicher, aber gerade jetzt in Bezug auf die Ukraine-Soidariät halte ich das fast schon für fatal. Bin ich nur solidarisch, wenn ich etwas spende, solidarischer, wenn ich auf die Demo gehe und am solidarischsten, wenn ich als Helfer:in am Hauptbahnhof arbeite? Ich halte die gerade beginnende Diskussion über die – möglichst einzig – richtige Form der Solidarität für falsch. Wichtig ist, dass wir den Menschen aus der Ukraine dauerhaft nahe bleiben.
Wie lange hatte nochmal die Willkommenskultur beim Syrienkrieg angehalten? Ein paar Monate nach „Wir schaffen das!“ hatten ein paar kriminelle Akte von Menschen mit arabischem Migrationshintergrund das ganze solidarische Gebäude beschädigt. Man war enttäuscht. Und beargwöhnte die Neu-Bürger. Ich erinnere mich an hässliche Kommentare von eigentlich sehr aufgeklärten Leuten, die so manches Stammtisch-Niveau locker unterboten.
Und jetzt? Wir helfen, spenden, demonstrieren. Wir lernen – und das ist vielleicht das Nachhaltigste in dieser Situation tatsächlich Menschen kennen, die schon länger hier wohnen, aus der Ukraine stammen und jetzt Familienangehörige aufgenommen haben. Wir sind solidarisch. Jede und jeder wie er kann. Daraus eine Art Rankingliste zu machen, halte ich für Unsinn. Jeder soll bitte nach seiner Façon unseren Nachbarn in der Ukraine nahe sein. Und bleiben. Auch über die aktuelle Nachrichtenlage hinaus.
 
Tag 18
 
Ich werde misstrauisch. Es erreichen einen so viele Nachrichten, aber man kann sich nicht nach ihnen richten. In der ARD steht nach fast jedem zweiten Artikel, dass man den Inhalt basierend auf den Angaben der Kriegsparteien nicht verifizieren kann. Wenn also Selenskyi von einer Wende im Krieg redet, was meint er? Dürfen wir ihm mehr trauen als Herrn Putin? Klar, er ist sympathischer – ohne Zweifel. Aber dass die Wahrheit im Krieg als Erste stirbt, ist leider wahr und gilt auch für die Instrumentalisierung der öffentlichen Meinung. Ich habe mir angewöhnt nicht ständig auf die Nachrichten zu schauen, obwohl ich so gerne positive Nachrichten hören würde. Aber ich bleibe misstrauisch. Und was sind in einem Krieg schon positive Nachrichten – außer der Beendigung aller Kämpfe? Es gibt ja dann noch genug zu tun. Von A wie Aufbau des Landes bis Z wie Zusammenarbeit beim Heilen aller Traumata.
 

Tag 16

Sind die Ukrainerinnen und Ukrainer eigentlich Helden?
Ich bin heute länger mit der S-Bahn gefahren. Zwei junge Männer fanden den ukrainischen Präsidenten einfach toll. Ein richtiges Vorbild. Ein echter Kerl – mit Familie, der für sein Land kämpft und alle unsere Sympathie hat. Ein Held, frage ich ungefragt dazwischen, weil die beiden so laut diskutieren, dass der halbe Zug eh mithört. Sie denken kurz nach. Und nicken. Wir lächeln uns Verständnis zu.
Ich steige um, aber die Frage bleibt mir. Erfüllt Selenskyi die Sehnsucht nach einem modernen Heldentum? Weil er in einen fast aussichtslosen Kampf als David gegen den russischen Goliath zieht? Selbstbewusst nach Westen und Osten „seine“ Ukraine verteidigt? Um Waffen bittet, damit wir kein schlechtes Gewissen bekommen mit unserer angeschlagenen Friedensethik, die gerade ihren neuerlich Praxistest nicht bestanden hat?
Ich empfinde den ukrainischen Präsidenten nicht als Helden. Als strahlenden Helden schon gar nicht. Er ist in allerhöchster Not. Er wünscht sich, dass David siegen möge, aber es gibt zu viele Beispiele, die genau das Gegenteil belegen. Und er kann zwar unser friedensethisches Fundament hinterfragen, aber die NATO wird ihn wohl trotzdem nicht zum Sieg verhelfen. Für mich ist er ein Staatsmann geworden, und er verdient jede Unterstützung für sein Land, das jede Menge Alltagsheldinnen und Alltagshelden kennt in dieser alles andere als alltäglichen Lage. Die, die helfen, sich für andere aufopfern, vor Ort bleiben, agieren sie etwa nicht heldenhaft? Oder tun sie das, was Menschen normalerweise tun, wenn die Not groß genug ist? Sich gegenseitig stützen, damit möglichst keiner zurückbleibt? Und wäre dann Selenskyi doch auch so etwas wie ein Held?
Ich steige mit ziemlich vielen Fragezeichen aus der S-Bahn. Und schreibe in mein Notizbuch: Weiter nachdenken über HELDEN.

 
 
 
 

Tag 8

Erschreckend. Schon eine Woche Krieg. Ich schüttle immer noch den Kopf. Irgendetwas in mir will es nicht glauben.
Zu meinem morgendlichen Ritual gehört – egal wie die Weltlage ist – ein Pott Kaffee und der Blick in die Nachrichtenkanäle auf meinem Laptop: ARD, Spiegel-Online, El Pais, rbb24 und rbbKultur. Manchmal noch andere Quellen, Zeitungen, Agenturen, Social Media. Momentan kann ich mich von den Nachrichten kaum lösen. Sie hinterlassen Spuren im Kopf, Bilder brennen sich ein. Es ist schwer abzuschalten. Alles scheint unter dem Vorbehalt zu stehen, dass doch da draußen Krieg ist.
Ich war heute wütend auf mich selber, dass mir dieser Krieg so nah geht. Ich habe Kriege aus der Nähe erlebt – in Mittelamerika, in Venezuela. Habe selber darüber berichtet. Aber der Krieg in der Ukraine – was macht ihn so anders? Die Nähe zu meiner Heimatstadt Berlin? Die Frage, was noch kommen könnte? Die Angst auch um Freunde und Familie? Bin ich zu sensibel?
Ich freue mich über so kleine positive Nachrichten wie die Hilfsbereitschaft der Nachbarländer. Oder dass auch in Kriegszeiten noch Kinder auf die Welt kommen und ein gerade Vater gewordener Mann im ARD-Brennpunkt erzählt, dass in den Feuerpausen einige joggen gehen in Kiew oder den Hund Gassi führen. Ja doch. Das Leben geht weiter.
Für einen Moment gelingt mir die Balance zwischen äußerem Krieg und innerem „Frieden“ mit den Bildern „da draußen“ nur in der Küche beim Brotbacken. Ich knete den Teig lange und mit der Hand und schalte ganz allmählich von rasend auf langsam.
„Machen Sie den Fernseher aus!“, rät die Psychologin, die nach der Macht der Bilder und der Ohnmacht ihnen gegenüber gefragt wird.
Es hilft nur bedingt. Aber – weit weg von Internet und Fernsehern- und während der Teig ganz langsam geht wie immer, werde ich etwas ruhiger. „Vielleicht gibt es morgen bessere Nachrichten“, hat die Reporterin eines spanisch-sprachigen Senders am Schluss ihres Berichtes gesagt. Ja vielleicht. Ja hoffentlich. Ja verdammt nochmal …

Tag 9

Warum hab ich eigentlich diese ganzen Bücher gesammelt, die bei uns zu Hause Wände füllen? Richtig. Um sie gelegentlich aus dem Regal zu nehmen. So wie ich heute „meinen“ Münkler.
„Die Angst vor einem großen Krieg ist nach Europa zurückgekehrt,“ (S.7) schreibt Herfried Münkler schon 2015 in seinem Buch „Kriegssplitter“, in dem er dem, der es lesen wollte, schon damals von hybriden Kriegen und der postheroischen Zeit ziemlich schonungslos erzählte. Worüber wir jetzt so erschrocken sind. Ich bin es ja selber, und wundere mich beim Lesen.
„Die enttäuschte Erwartung, dass es eine Ära verlässlichen Friedens geben werde, hat sich freilich auf eine bemerkenswert eurozentrische Weltwahrnehmung gestützt“ (S. 8) Es ist schon erschreckend klug, wie dieser hellsichtige Historiker schon – auch den jetzigen Feldzug fast vorgefühlt hat. Etwa, wenn er die postimperiale Welt betrachtet und konstatiert, „dass gerade ihre Instabilität zu neoimperialen Träumen bei den einstigen Vormächten führt und sie darüber nachdenken lässt, ob sie nicht unter der Vorgabe, als Schutzmacht für Minderheiten und bedrohte Volksgruppen aufzutreten, Einfluss auf diese Räume gewinnen und sie dem eigenen Herrschafts-Bereich erneut einverleiben könnten.“ (S. 342) Und das zeige sich, so Münkler, „zurzeit sehr deutlich in der von Wladimir Putin gelenkten Politik Russlands“ – Dass er das schon vor 7 Jahren schrieb, zeigt, wie voraussehbar die jetzt eingeläutete „Zeitenwende“ war. Es macht mich um so wütender, dass wir diese ganze Zeit so verstreichen ließen nach dem Motto: Wird schon nicht so schlimm.
Was für die Corona-Pandemie gilt – wissenschaftliche Expertise hoch zu schätzen – sollte auch stärker als bisher für die geostrategischen Analysen gelten. Fassungslos machen mich die Bilder von angegriffenen AKWs gleichwohl. Und wütend. Und ratlos.

Tag 10

Heute nur ein längeres Zitat:
„Spät in der Nacht gingen wir durch die leeren Straßen und das Iberische Tor nach dem großen Roten Platz vor dem Kreml. Durch die Dunkelheit schimmerten verschwommen die phantastischen Formen der Basilius-Kathedrale mit ihren leuchtenden Kuppeln und Türmen. Von Beschädigungen keine Spur. Längs der einen Seite des Platzes erhoben sich die dunklen Mauern des Kreml, darauf der flackernde Widerschein unsichtbarer Feuer. Von jenseits des mächtigen Platzes drangen Stimmen zu uns, vermischt mit dem Geräusch arbeitender Picken und Schaufeln. Wir gingen hinüber.
Am Fuße der Mauer türmten sich Berge von Erde und Steinen. Wir kletterten hinauf und blickten in zwei mächtige Gruben, zehn bis fünfzehn Fuß tief und etwa vierzig Meter lang, wo gegen hundert Arbeiter und Soldaten bei dem Schein mächtiger Feuer schaufelten.
Ein junger Student sprach uns deutsch an: „Das Grab für unsere toten Brüder!“ erklärte er. „Morgen werden wir hier fünfhundert Proletarier betten, die für die Revolution gestorben sind.“
Er half uns die Grube hinunter. Eilig flogen die Picken und Schaufeln, und die Berge Erde wuchsen höher und höher. Nicht einer der arbeitenden Männer sprach ein Wort. Über ihnen war der Sternen übersäte Himmel, und die alten Mauer des Zarenkreml ragte gewaltig auf.
„Hier an diesem heiligen Ort“, sagte der Student, „dem heiligsten in ganz Russland, werden wir unser liebstes zur ewigen Ruhe betten. Hier, wo sich die Gräber der Zaren befinden, sollen unsere gefallenen Brüder schlafen.“ Er war in den Kämpfen verwundet worden und trug den Arm in der Schlinge. Er blickte auf sie herunter. „Ihr Ausländer seht auf uns Russen herab, weil wir diese mittelalterliche Monarchie solange geduldet haben; aber wir Russen wußten, daß der Zar nicht der einzige Tyrann in der Welt war. Der Kapitalismus ist schlimmer, und er herrscht in der ganzen Welt. Die Taktik der russischen Revolutionäre, das ist die richtige.“
Als wir gingen, begannen die Arbeiter in den Gruben, erschöpft und trotz der Kälte schweißtriefend, schwerfällig herauszuklettern. Über den Platz kamen eilig neue Trupps. Die Männer sprangen in die Gruben hinein, packten die Picken und Schaufeln und arbeiteten in tiefem Schweigen. So lösten die ganze Nacht hindurch Proletarier einander ab, in rastloser Eile schaufelnd, und als über dem schneebedeckten weiten Platz das kalte Morgenlicht dämmerte, war das Massengrab fertig.“
aus: „John Reed – zehn Tage, die die Welt erschütterten“
John Reed war ein amerikanischer Sozialist, der 1917 die Oktoberrevolution in Russland journalistisch begleitete. Ich lese das Buch auf drei Ebenen: Als Reportage der ersten europäischen Revolution, als Geschichte vieler Irrtümer über hehre Ziele und ernüchternde Realitäten, als Warnung auch, die eigene Weltsicht als einzig richtige Sicht zu sehen.

Tage 11 und 12

Viel unterwegs gewesen in Berlin. Immer öfter sieht man Plakate, die sich mit dem Krieg auseinandersetzen. Ein T-Shirt-Laden in Kreuzberg hat das passende Outfit für die nächste Demo parat mit blauer Schrift auf gelbem Body. Andere Plakate fordern Waffen für die Ukraine.

Derweil werden die Töne immer schriller aus und um das zweitgrößte Land in Europa. Dass die NATO doch noch eingreift … ich bin hin und hergerissen bei diesem Gedanken. Klar, es wäre eine Hilfe. Aber zu welchem Preis? Nachdem wir gesehen haben, wieweit Putin geht und wie wenig er auf die diplomatischen Versuche eingeht, muss man ihm zutrauen, dass er auch zu letzten Mitteln greift.

Oder ist es ein Spiel mit unserer Angst – wie in der Geschichte von Franz Kafka „Vor dem Gesetz“, wo der Türhüter am Ende des Lebens nach unzähligen Versuchen, die Pforte zu passieren, dem Einlass Erbittenden erklärt, dass diese Tür nur für ihn da war und – unausgesprochen – er sich nur von den Drohgebärden des Türhüters hat davon abhalten lassen, dahin zu gehen, wo er hinwollte. Es wird bei Kafka allerdings nicht klar, inwieweit der Wächter über Waffen verfügte. Warum auch. Das subtile Spiel mit dem, vor dem der Bittsteller zurückschreckt, reicht bei ihm aus. Bei uns sieht es ähnlich aus. Oder?

Tag 13 (Weltfrauentag)

Der Krieg in der Ukraine verändert die Wahrnehmung – auch meine, auch ganz normal im Alltag.

Ich hatte mir schon länger vorgenommen, die Hannah-Höch-Ausstellung im Berliner Bröhan-Museum anzuschauen. Man kann diese tiefsinnige Frau ja garnicht oft genug treffen. Mal sind es ihre Bauhaus-Aspekte, die mich reizen, mal die explodierenden Farbpaletten in ihren surrealen Bildern, dann wieder die eher kleinen Werke.

Heute waren es eher die zarten Töne eines Werkes mit dem Titel „Versunken“. Häuserfassaden aus einer Flugzeugperspektive, dazwischen sinnende Gesichter, gedeckte Farblichkeit. In sich versunken. Versunkene Städte. In sich versunkene Häuser. Für den Moment öffnet sich das Bild in meine Gefühlswelt. Das Grelle der anderen Bilder wird zum Momentanen. Die Collagen, die die Höch ja miterfunden hat, werden zu den Bildern des Jetzt, die den Krieg im nahen Fernen sezieren. In meinem Kopf drehen sich die Gedanken.

Und dann bleib ich bei einem Zitat von Raoul Hausmann stehen. Ihr langjähriger Gefährte und Kontrapunkt sinnierte: „Diese untergehende Welt war eine Welt vor allem des ruhigen Raums – wir sind im Begriff, in eine Welt der Zeit und der dynamischen Kräfte zu schreiten, in der eine ungeheure Bewegung und Bewegtheit alte Grenzen auslöst und die Fesseln sprengt.“
Ist das eine zutreffende Beschreibung? Ein Trost? Ein bloßer Spruch über eine gewesene Zeitenwende?

Krieg verändert Wahrnehmung. Es ist eine schmerzliche Erfahrung. Wie kann man darin versinken, ohne darin zu versinken?

 
 

Tag 1
Ich wollte dieses Kapitel nicht aufschlagen. Ich hielt es für passé. Nicht mehr zeitgemäß. Aber jetzt?
Panzer rollen durch Europa. Bombendetonationen erschüttern die Skyline europäischer Städte. Bilder aus der Nachbarschaft. Lwiw ist nicht mal 1000 km entfernt. Kiew weniger als 1400 km weg. Mit dem Auto 14 Stunden, meint Google. Weit weg. Bisher. Und jetzt so nah. Mit Menschen, die weinend nichts anderes wollen, als ihre Enkelkinder in Sicherheit zu bringen und die im Stau mit zehntausenden Landsleuten stecken. Westwärts – nach Europa. Dessen Teil sie sind – die Ukrainer.
Hätten wir ihnen Waffen geben sollen? Mein Pazifistenherz kommt aus dem Takt. Kam schon beim Jugoslawienkrieg in Wallung. Hätten wir? Hätte es „die Sache“ besser gemacht?
Ich sehe den ganzen Tag nichts anderes als hektisches Agieren und einen entspannt wirkenden Spieler im Kreml, der seine Bauern bewegt hat und wartet, ob der Gegner einen genialen Zug macht. Und der sich dabei selbst für zu genial hält, als dass er sehen könnte, dass er gegen die ganze Welt spielt, die er verachtet, weil sie nicht seine Welt ist.
Es ist Krieg.
Lärmend.
Lähmend.
Noch weit weg.
Und doch schon furchtbar nah.
Ich habe … Angst.

Tag 2
Heute nacht ist eine Weltkriegsbombe im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg entschärft worden. Erfolgreich. Wir haben ja Erfahrung mit diesen „Hinterlassenschaften“. Als ich die Meldung heute früh lese, werde ich nachdenklich. Knapp 77 Jahre nach dem Ende des von Hitler und der Wehrmacht mit einem Überfall auf Polen begonnenen Krieges schlummern „Kampfmittel“ immer noch im Berliner Untergrund. Nachhaltig. Das Wort bekommt einen bitteren Beigeschmack. Wie lange dauert ein Krieg?
Währenddessen rollen Panzer auf Kiew zu, machen sich hunderttausende auf den Weg nach Westen. Gestern hat rbbKultur sein Abendprogramm geändert und einen alten Kulturtermin in einer überarbeiteten Fassung zur jüngsten Geschichte der Ukraine wiederholt. Glaubt Putin, dass er den Freiheitswillen eines ganzen Volkes lange unterdrücken kann, nur weil ihm das „Modell Ukraine“ als Alternative zu seiner eigenen Vorstellung eines funktionierenden Post-Sowjet-Staates nicht gefällt? Glauben die anderen Despoten Ähnliches?


Nachtgedanken

„Wie lange noch willst du unsere Geduld missbrauchen? Bis wann soll deine Tollheit uns noch verhöhnen? Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich noch vermessen?“ Ich träume zur Zeit in merkwürdigen Szenen. Mitten in meinem gestrigen Traum schleudert ein mächtiger Politiker seinem Kontrahenten diese Vorwürfe an den Kopf. Der ist längst durchschaut und bloßgestellt:
„Du tust nichts, du planst nichts, du denkst nichts, ohne dass ich’s erfahre und sogar sehe und genau bemerke.“ Und doch zieht der eigentlich Bloßgestellte mit seiner Streitmacht in den Krieg, will die Hauptstadt in Schutt und Asche legen, will die Macht. „Zieh aus in den verbrecherischen und ruchlosen Krieg – zum Heil des gesamten Staates, zu deinem Unglück und Verderben!“ ruft ihm sein Gegner zu … und in der Folge verliert der Wahnsinnige tatsächlich seine Truppe, sein Kriegsglück und sein Leben.
So geschehen in Rom zur Zeit eines gewissen Cicero, der sich gegen seinen Widersacher Catilina zur Wehr setzt. Und Recht behält, aber „zum Heil des gesamten Staates?“ wie Cicero schreibt. Und wer wäre heute Cicero – wenn ich mal Herrn Putin die Rolle des Catilina geben darf? Von Sanktionen war schon im alten Rom die Rede, aber mit der Macht der Worte allein war es schon damals nur begrenzt möglich, einem Schurken das Handwerk zu legen. Es bedurfte einer militärischen Hausmacht, auf die Cicero auch mit seinen Reden Einfluß nahm. Wer wäre Cicero heute? Ein ferner Präsident Biden? Ein seinen Posten demnächst räumender NATO-Chef Stoltenberg, eine sichtbar wütende deutsche Außenministerin Baerbock, EU-Chefin von der Leyen? Sie können agieren, haben mehr als nur militärische Macht, um das System Putin zu beschädigen. Aber sie sind sich nicht sicher, ob das reicht. Und ob das System Putin nicht doch waghalsig und wahnsinnig genug ist, alle Regeln zu übertreten, die sie noch immer weitgehend einhalten. Cicero war sich – trotz seiner Macht als Konsul – nicht sicher, ob er den Umsturz des Catilina würde bremsen können. Er versuchte es. Mit aller Macht.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das in der jetzigen Situation wirklich wünschen soll. Aber wenn ich die Gesichter der verzweifelten Ukrainerinnen und Ukrainer sehe, fühl ich mich verdammt kleinmütig.

Tag 3
Nun also doch und nun also doch auch ziemlich schnell: Die deutsche Regierung schickt Waffen in die Ukraine und wehrt sich nicht mehr dagegen, das – wie es Außenministerin Baerbock gestern formulierte – „schärfste Schwert“ der Sanktionen gegen Putins Machtapparat zu zücken – den Ausschluss der russischen Banken vom SWIFT-Verfahren. All das wohl auf Druck der Alliierten. Und Putin ist selbst im eigenen „Lager“ isoliert. Ungarns Victor Orbán trägt Sanktionen gegen Russland mit, die tschechische Regierung ebenfalls.
Zur Freude darüber aber ist es zu früh. Putin hat angekündigt, den Krieg weiter zu führen, totaler zu führen und das heißt: es wird grausamer, leidvoller, blutiger – wahrscheinlich für die Ukraine wie für Russland.
Was mich momentan bis in die Träume verfolgt, dass wir mit jedem Brennpunkt, jeder Sondersendung so nah an den Bildern dieses Krieges sind, dass ich das Leid der Menschen spüren kann und es mir tief unter die Haut geht, wenn eine verzweifelte Mutter sich über die polnischen Grenzer aufregt, die ihre Tochter nicht durchlassen oder eine andere Frau hofft, ihren Vater, der in Kiew bleiben will, noch einmal lebend wieder zu sehen.
Was für ein Irrsinn. Ich würde am liebsten abschalten, so wie ein lieber Freund, der heute beim Telefonieren gesagt hat, er will das Wort Krieg nicht mehr hören. Aber man kann doch diese Bilder nicht sich selber überlassen. Oder?

Tag 4
Überwältigt!
Eine so überzeugte Bundesregierung. 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Fast alle „spielen“ mit. Und plötzlich geht alles schnell. In Brüssel. In Berlin. Wo sich am Mittag weit mehr als hunderttausend Menschen friedlich versammeln, um gegen Putins willkürlichen Einmarsch in die Ukraine zu protestieren. Da ist sie wieder – die Friedensbewegung. Nicht nur in Berlin. Ich reibe mir erstaunt die Augen. Und noch etwas ist neu: Selbst hartgesottene Länder, die noch vor einigen wenigen Jahren sich strikt weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen, öffnen jetzt ihre Tore.

Ich bin skeptisch, ob das lange so bleibt. Aber ich freue mich, dass es überhaupt geht. Vielleicht hab ich ja Unrecht. Und die Zeitenwende gebiert nicht nur Ungeheuer.
Die Illusion allerdings, dass Putin einfach so aufgibt, die habe ich nicht. Hat wahrscheinlich niemand. Aber wie gefährlich kann er werden? Und kann man sich trauen, darauf zu bauen, dass der Herr im Kreml nicht ohne Rücksicht auf Verluste bis zum Äußersten zu gehen bereit ist. Und was wäre das? Ein Cyberkrieg? Ein Atomkrieg? Ein Dritter Weltkrieg?
Die Frage ist wahrscheinlich, wie sicher sich Putin wirklich im Sattel wähnt und ob er taktisch auch das Scheitern des Ukraine-Feldzuges mal für sich kalkuliert hat. Wir wissen es nicht.

Heute gönne ich mir für ein paar Stunden noch das Gefühl positiv beeindruckt zu sein – weil das Wort Solidarität auf einmal wieder keine hohle Phrase zu sein scheint.

Tag 5
Heute vormittag war ich beim Zahnarzt. Im Wartezimmer saß ein älterer Mann. An seinen Kragen hatte er einen Anstecker mit den ukrainischen Farben geheftet. Ob er gestern auf der Demo war, wollte ich wissen. Natürlich, meint er. „Ich hab schon damals bei der Friedensdemo in Bonn mitgemacht, dann eher nicht mehr. Aber jetzt.“ Damals ging es um die NATO-Nachrüstung, die die westdeutsche Friedensbewegung unbedingt verhindern wollte. Ich nicke. Wir kommen ins Plaudern. „Frieden schaffen ohne Waffen“ – das sei damals so eine Illusion gewesen. Leider, sagt er. Aber der Umsturz in der DDR – das war doch ein Beispiel … sie hätten alles niederprügeln können. Er zuckt mit den Schultern. Aber sie haben keinen Genozid begangen wie in Jugoslawien 1992 oder ein kleines Land überfallen wie jetzt Putin.
„Ich bin auch für Frieden. Ich mag kein Militär. Aber bei Tyrannen …“ Wir werden leider unterbrochen. Er wird aufgerufen von der Sprechstundenhilfe.
Aber bei Tyrannen … klingt es bei mir in den Ohren. Hitler hätte man auch nicht mit friedlichen Mitteln beseitigen können. Ja. Richtig. Und eine ganze Reihe von anderen Diktatoren auch nicht. Wobei die Intervention von außen keine Garantie war, dass hinterher Friede und Freude herrschte – Gaddafi wurde eliminiert, aber die Probleme seines Landes blieben. Somoza musste aus Nicaragua fliehen, aber „sein“ Land leidet heute unter der Kleptokratie des Ortega-Clans. Ich ertappe mich beim friedenspolitischen Prinzipienreiten und merke gleichzeitig, dass jeder dieser „Fälle“ im Zweifelsfall anders ist.
Als ich beim Zahnarzt auf dem wohlbekannten Stühlen sitze, geht mir das Thema nicht aus dem Kopf. Mal geht es mit Gebeten und Kerzen, mal nur mit Panzern und Raketen? Ich ertappe mich beim Gedanken, dass ein Teil des bisherigen friedenspolitischen Diskurses allzu blauäugig war. Das ist wie mit der Mutter, die ihren Sohn immer nur mit guten Worten erzogen hat, aber selten Grenzen aufgezeigt hat. Er hat sich später darüber beklagt.
Ich hoffe, ich kann ihren Backenzahn retten, meint der Arzt. Ich muss grinsen. Er schaut etwas verwirrt. Naja, meine ich, manchmal muss so ein Ding auch raus.

Tag 6

wieworte

tränentraurig
ungewohnt karg

beklemmend furchtbar
schrecklich weit nah

mitfühlend gar
gedankenverloren
trotzdem
hilflos
machtlos
grundsolidarisch
aber
hoffnungsvoll
sehnsuchtsvoll
realistisch
endzeitgestimmt

ängstlich
deswegen
mutig
verwegen

krieg
ist
kein
wiewort
mensch


Tag 7

Es ist Mittwoch und – für mich – seit Monaten das erste Mal wieder Chor. Vorsichtig mit Impfzertifikat, Tagestest und Maske nähern wir uns Mendelssohn und seinem ELIAS. Und wir nähern uns fragend, einige jedenfalls. Kann man singen, wo anderswo gekämpft wird? Ich habe fast den ganzen Tag immer wieder an einen Freund denken müssen, dessen Familie in der Ukraine lebt und der selbst ukrainische Wurzeln hat. Wie muss er sich fühlen, frage ich mich mehr als einmal an diesem Tag fast eine Woche nach Kriegsbeginn.
Und ich gehe singen. Mhm. Ich bin nicht der Einzige, der da ein mulmiges Gefühl hat.
„Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehentausend zu deiner Rechten…“ der alte Text passt zu meinen Gedanken. leise, vielstimmig, versetzt. Die einzelnen Stimmen im Chor nähern sich zaghaft der alttestamentarischen Grausamkeit, die zu prophetischen Zeiten herrschte und auch heute ohne Propheten immer noch existiert. „Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehentausend zu deiner Rechten…“. Mendelssohn scheint die Stimmen gegeneinander zu hetzen, diese Erfahrung von Leid und Tod und Hoffnungslosigkeit. Leise, mal anschwellend zur Klage, dann wieder verzweifelt.
Und dann donnert er sein „Fürchte dich nicht, spricht unser Gott, fürchte dich nicht, ich bin mit dir, ich helfe dir!“Gegen alle Zweifel, forte, fast genauso unvermittelt wie die leisen Klagen davor. „Denn ich bin der Herr dein Gott, der zu dir spricht: Fürchte dich nicht! Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehentausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.“ Natürlich kann man mit Gott, der so viel Ungerechtigkeit zulässt, hadern. Oder die Zuversicht, dass es einen selber nicht treffen wird, als billigen Trost abtun. Ich kann mich gerade beiden Lesarten nicht anschließen. Ich finde die Klagen notwendig genau wie den Trost. Nein, der Text und die Musik lullen nicht ein. Im Gegenteil. Er lässt einen nicht verzweifeln. Und das ist momentan wichtig.

Eine Liste, die die ARD zusammengestellt hat.

Außerdem hat die ARD einen PODCAST zur Ukraine mit Hintergründen zu den verschiedenen Protagonisten des Krieges aufgelegt.